Ein Roman ist nicht nur eine Geschichte, sondern auch jede Menge Text. Der wiederum besteht aus einzelnen Sätzen. Doch nicht nur deren Inhalte, auch Länge und Aufbau der Sätze lassen sich wunderbar für die Dramaturgie einer Szene nutzen.
Satzbau und Dramaturgie
Ein unauffälliger Satz besteht aus etwa 15 bis 20 Wörtern. Sätze dieser Länge können problemlos gelesen und vom Gehirn schnell verarbeitet werden. Auch deutlich längere Sätze sind kein Problem – vorausgesetzt, sie sind gut gebaut.
Während Baldini noch mit seinen Kerzenleuchtern auf dem Tisch hantierte, schlüpfte Grenouille schon in das seitliche Dunkel der Werkstatt, wo die Regale mit den kostbaren Essenzen, Ölen und Tinkturen standen, und griff sich, der sicheren Witterung seiner Nase folgend, die benötigten Fläschchen von den Borden.
Patrick Süskind: Das Parfüm. Die Geschichte eines Mörders. Diogenes Taschenbuch, 1994, S. 102.
Dieser Satz ist ganz schön lang, trotzdem können wir dem Inhalt problemlos folgen. Denn er hat einen leicht verständlichen Satzbau, der zu keinem Zeitpunkt Informationen schuldig bleibt.
Während Baldini noch mit seinen Kerzenleuchtern auf dem Tisch hantierte, (…)
Am Ende dieses Teilsatzes fehlt mir keine Information, um zu verstehen, was erzählt wird.
(…) schlüpfte Grenouille schon in das seitliche Dunkel der Werkstatt, (…)
Ebenso.
(…) wo die Regale mit den kostbaren Essenzen, Ölen und Tinkturen standen, (…)
Ebenso.
(…) und griff sich,(…)
Das ist der einzige Teil des Satzes, der bis zum Komma nicht abgeschlossen ist – ich muss weiterlesen, um die noch fehlende Information zu erhalten, damit ich dem Inhalt folgen kann. Das heißt, ich erfahre an dieser Stelle nicht, was sich Grimaldi griff. Vorher muss ich noch einen anderen Teilsatz lesen.
(…) der sicheren Witterung seiner Nase folgend, (…)
Der Satz ist ein Einschub, in sich verständlich. Da er kurz ist, kann ich schnell weiterlesen, um den noch halb offenen Satz zu verstehen.
(…) und griff sich,(…) die benötigten Fläschchen von den Borden.
Damit ist die noch fehlende Information nachgeliefert. Der Satz ist lang, aber gut zu lesen und schnell zu verarbeiten.
Ein Satz ist schwerer zu verstehen, wenn eine Information offenbleibt. Steht am Anfang des Satzes nur ein Teil der Information, so muss ich weiterlesen, um ihn zu verstehen. Liegen die wesentlichen Informationen eines Satzes weit auseinander, wird es immer schwieriger. Womöglich muss ich an den Satzanfang zurückkehren, um die Informationen am Anfang und am Ende eines Satzes zusammenbringen zu können.
Die Konsulin Buddenbrook, neben ihrer Schwiegermutter auf dem geradlinigen, weiß lackierten und mit einem goldenen Löwenkopf verzierten Sofa, dessen Polster hellgelb überzogen waren, warf einen Blick auf ihren Gatten, der in einem Armsessel bei ihr saß, und kam ihrer kleinen Tochter zu Hilfe, die der Großvater am Fenster auf den Knien hielt.
Thomas Mann, Buddenbrooks, Verfall einer Familie. S. Fischer Verlag 1909, S. 6.
Dieser Satz ist nicht viel länger als der Satz von Patrick Süskind. Mit seinen 52 Wörtern ist er auch durchaus noch überschaubar. Es gibt weit längere Sätze. Und dennoch – er veranschaulicht, wie der Satzbau den Lesefluss beeinflusst.
Die Konsulin Buddenbrook, (…)
Der erste Teilsatz ist beendet und ich weiß nun, dass es sich um die Konsulin handelt. Doch es fehlen mir wichtige Informationen, um diesen Teilsatz verstehen zu können.
(…) neben ihrer Schwiegermutter auf dem geradlinigen, weiß lackierten und mit einem goldenen Löwenkopf verzierten Sofa, (…)
Das Komma nach „geradlinig“ ist eine Aufzählung, es trennt in diesem Fall keinen Teilsatz ab. Aufzählungen nehmen kaum Einfluss auf den Lesefluss, da mein Gehirn sich keine „schwebenden“ Informationen merken muss.
Der Abschnitt von „neben ihrer Schwiegermutter“ bis „verzierten Sofa“ ist ein Teilsatz. Er teilt mir mit, wo die Konsulin sich gerade befindet. Aber noch immer ahne ich nicht, worum es eigentlich geht – es fehlt also nach wie vor die wichtigste Information, um den Anfang des Satzes verstehen zu können – was ist mit der Konsulin auf dem Sofa?
(…) dessen Polster hellgelb überzogen waren, (…)
Dieser Teilsatz beschreibt das Sofa näher, verrät aber immer noch nicht, worum es eigentlich geht.
(…) warf einen Blick auf ihren Gatten, (…)
Endlich kommt die eigentliche Information – könnte man hier denken. Das Gehirn muss sich bis zu dieser Stelle alles vom Anfang des Satzes merken, um den Rest des Satzes interpretieren zu können.
(…) der in einem Armsessel bei ihr saß, (…)
Dieser Teilsatz beschreibt den Gatten näher.
(…) und kam ihrer kleinen Tochter zu Hilfe, (…)
Nun muss ich mich an den Rest des Satzes erinnern – diesen Teilsatz kann ich nur interpretieren, wenn ich noch weiß, was am Anfang und was in der Mitte des Satzes stand.
Die Konsulin Buddenbrook (…) warf einen Blick auf ihren Gatten (…) und kam ihrer kleinen Tochter zu Hilfe, (…).
Das ist die eigentliche Information in diesem Satz. Ich muss bis zu dieser Stelle lesen, damit mein Gehirn alle Einzelteile der Information zusammenfügen kann, damit ich den Satz verstehe. Im Anschluss folgt noch eine weitere Information:
(…) die der Großvater am Fenster auf den Knien hielt.
Das ist eine Information zur Tochter und bringt keine weiteren Informationen zur Konsulin.
Beide Sätze, der von Patrick Süskind und auch der von Thomas Mann, lesen sich gut und sind schnell vom Gehirn zu verarbeiten. Beide sind mit rund 50 Wörtern nahezu gleich lang. Und dennoch: Süskinds Satz ist ein klein wenig schneller zu lesen und zu verarbeiten als der von Thomas Mann. Einziger Grund: der Satzbau. Je länger es dauert, bis unser Gehirn die wichtigen Informationen eines Satzes zusammenbringen kann, desto träger der Lesefluss.
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Und was hat das mit Dramaturgie zu tun?
Ein guter Text bietet Variation: immer wieder neue Wörter und neue Formulierungen. Sonst wird es langweilig. Auch Satzlänge und Satzbau sollten variieren.
Der ewig gleiche Satzbau „Subjekt – Prädikat – Objekt“ macht keine Lust auf mehr. Also wechseln wir beim Schreiben ab und schieben bei unseren Sätzen mal den einen und mal den anderen Satzteil an den Anfang.
Ähnlich bei der Satzlänge: Um für Abwechslung zu sorgen, formulieren wir mal längere und mal kürzere Sätze.
Doch kurze Sätze ziehen Aufmerksamkeit. Und das können und sollten wir gezielt für die Dramaturgie einer Szene nutzen.
Kurz heißt: weniger als zehn Wörter. Vor allem sehr kurze Sätze mit einer Länge von zwei, drei oder vier Wörtern können wir dramaturgisch sehr gut nutzen.
Denn kurze Sätze erhöhen die Spannung. Eine temporeiche Verfolgungsjagd verliert durch lange Sätze an dramatischer Stimmung. Also sollte eine besonders spannende Passage ein Mix aus eher mittellangen und kurzen Sätzen sein. So verleihe ich der Szene deutlich mehr Tempo.
Als ich gegen elf Uhr den Laden betrat, war Mischke noch immer nicht aufgetaucht. Dabei hatte er fest versprochen, mir zu helfen. Suchend blickte ich aus dem Fenster und entdeckte auf der anderen Straßenseite sein Auto. Der rote Polo stand direkt neben dem Pfeiler. Der Motor lief.
Wenn man ein Buch schreiben möchte, dann lässt sich mit nur wenigen Zeilen Spannung erzeugen. Dabei sorgt nicht nur der Inhalt für Spannung, sondern auch die Satzlänge.
Doch die Wirkung kurzer Sätze nutzt sich ab. Ein mehrzeiliger Absatz aus kurzen Sätzen stört den Lesefluss und nervt.
Deshalb sollten wir kurze Sätze nur sparsam verwenden. Beispielsweise um die Spannung zu erhöhen. Oder wenn wir die Aufmerksamkeit der Lesenden auf eine bestimmte Sache richten wollen.
Das funktioniert wunderbar, wie das Beispiel von Patrick Süskind zeigt. Im folgenden Absatz lenken die beiden kurzen Sätze unsere Aufmerksamkeit genau dahin, wo Süskind sie haben will.
Der Duft war so himmlisch gut, daß Baldini schlagartig das Wasser in die Augen trat. Er brauchte keine Probe zu nehmen, er stand nur am Werktisch vor der Mischflasche und atmete. Das Parfum war herrlich. Er war im Vergleich zu ‚Amor und Psyche‘ wie eine Sinfonie im Vergleich zum einsamen Gekratze einer Geige. Und es war mehr.
Patrick Süskind: Das Parfüm. Die Geschichte eines Mörders. Diogenes Taschenbuch, 1994, S. 111.